Sonderseiten zu Corona

Solidarität weiter großschreiben!

Gespräch mit Hermann Pfahler, 20. März 2020

Hermann Pfahler, Sprecher der lak Berlin
Hermann Pfahler, Sprecher der lak Berlin

Hermann, welche Informationen erreichen Dich derzeit als Sprecher der Landesarmutskonferenz Berlin? Was ist los in der Stadt, was macht Dir besondere Sorgen?

 

Ich sehe einfach, dass es die armen Menschen sind, die derzeit ganz besonders bedroht sind und unter der Situation leiden. Viele haben Vor- oder Mehrfacherkrankungen und gehören zu den besonderen Risikogruppen, für die eine Ansteckung mit dem Coronavirus äußerst gefährlich, gar lebensbedrohlich wäre. Dazu kommt, dass Menschen ohne eigene Wohnungen in der Regel keine Rückzugs- und Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Sich „mal eben“ ins Private zurückzuziehen, geht da nicht. Und wer insgesamt wenig Geld hat, der kann sich nicht ausreichend schützen oder selbst versorgen. Wir dürfen nicht vergessen – bei allem Verständnis, was die jetzige Lage für jeden von uns bedeutet – dass diese Menschen einen besonderen Schutz und zusätzliche Versorgungsangebote benötigen.

 

Was sollte derzeit denn unbedingt getan werden?

 

Für uns als Landesarmutskonferenz Berlin ist es auch ohne Corona ein großes Anliegen, dass Menschen ihre Wohnungen behalten können und individuelle Lösungen gefunden werden. Daher halten wir es in der derzeitigen Lage für geboten, alle Zwangsräumungen auszusetzen. Dazu kommen bereits verhängte Energiesperren der Versorgungsunternehmen, auch die müssen unbedingt aufgehoben werden. Gleichzeitig sind Massen- und Mehrpersonenunterkünfte – ich meine Notunterkünfte oder Notübernachtungen – Zug um Zug zu schließen. Denn natürlich ist hier die Gefahr der Ansteckung riesig, übrigens auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Betreiber- oder Hilfsorganisationen. Ich könnte mir vorstellen, dass die derzeit leerstehenden Hotels oder andere Gebäude für die Versorgung von wohnungslosen Menschen genutzt werden könnten. Ebenso ist es erforderlich, dass für alle wohnungslosen Menschen und diejenigen, die keine Krankenversicherung haben, die gesundheitliche Versorgung sichergestellt wird. Das gilt natürlich ebenso für die vielen Menschen aus anderen EU-Staaten, die ohne Krankenversicherung in Berlin leben. 

 

Die Landesarmutskonferenz Berlin hat über 60 Mitgliedsorganisationen, die meisten arbeiten an vorderster Linie mit Menschen, die derzeit so dringend unsere Unterstützung und unseren Schutz brauchen. Was wird Dir berichtet?

 

Es fehlt an so vielem! An Geld, an Räumlichkeiten, an Personal, an Lebensmitteln, an Dingen des täglichen Bedarfs und an menschlichen Kontakten, die ja immer mehr zurückgeschraubt werden sollen. Wenn die vielen Anlaufstellen in dieser Stadt für Wohnungslose, Kranke, alte Menschen oder auch Kinder und Familien schließen müssen, heißt es, dass wir sie in dieser Situation alleine lassen. Einige Organisationen sammeln bereits unermüdlich Gelder, die sie sofort und direkt an obdachlose Menschen ausgeben. Andere verstärken ihre aufsuchende Arbeit, damit die Grundversorgung ihrer Klienten sichergestellt werden kann. 

 

Aber alle Anstrengungen und Bemühungen bleiben unbefriedigend, weil natürlich das, was wir vor der Corona-Krise hatten, kein Überflusssystem war, sondern einen konkreten Bedarf bedient und schon in normalen Tagen hier und da nicht gereicht hat. Es gibt viele Notleidende, die unsere gesellschaftliche Unterstützung benötigen und in dieser Situation noch viel mehr. Ob kurzfristig oder dauerhaft – es muss geholfen werden und niemand darf zurückgelassen oder ausgegrenzt werden. Dafür stehen wir als Landesarmutskonferenz Berlin mit unseren Mitgliedern. Und das gilt natürlich auch jetzt in diesen Tagen. Ich hoffe, wir kriegen das alle gemeinsam hin. 

 

Neben all jenen, die bereits Teil des Berliner Hilfesystems sind, kommen jetzt ja viele neue Personengruppen dazu, die mit den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise um ihre Existenz bangen ... 

 

... ja, es ist erschreckend festzustellen, wie viele Menschen derzeit konkret befürchten, die nächsten Monate oder Jahre finanziell nicht mehr über die Runden zu kommen. Es soll staatliche Hilfen geben, doch diese werden aufgrund bürokratischer Hürden vermutlich nicht schnell genug ausgezahlt werden. Das bedeutet, dass wir uns auf einen enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit vorbereiten müssen. Auch wird es viel mehr Menschen geben, die von Hartz-IV leben werden. Das stellt unsere Gesellschaft auf eine große Probe. Und ehrlich, wir brauchen ja nur weiterzudenken, was weiter passieren kann: Auch trotz unseres Hilfesystems und den sozialen Sicherungssystemen ist zu befürchten, dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. Wenn Lebenshaltungskosten steigen, setzt sich schnell eine Abwärtsspirale in Gang. 

Wir sollten aufmerksam sein. Solidarität haben wir immer schon großgeschrieben. Das gilt heute in der Krise, aber auch unbedingt in den kommenden Monaten und Jahren, denn so schnell erholt sich das System nicht. Arme haben es oft  mit dem gesellschaftlichen Stigma zu tun, selbst verantwortlich für ihre Situation zu sein. Ich finde es wichtig, dass wir alle unsere bisherigen Überzeugungen gerade in diesem Punkt noch einmal kritisch unter die Lupe nehmen. Denn nur miteinander kommen wir weiter. Mit Fingern auf  andere zu zeigen, tut niemanden gut. 

 

Danke, Hermann, für das Gespräch. 

 

Ach ja, lass mich bitte noch ein dickes Dankeschön an all jene aussprechen, die jetzt nicht zu Hause sind, sondern den Betrieb aufrechterhalten. In Krankenhäusern, in Supermärkten und Apotheken und natürlich auch da, wo Menschen in Not Hilfe erhoffen. Ohne Euch geht nichts. Bleibt bitte gesund! 

 

Kirstin Wulf