Durch die Krise steigt auch die Diskriminierung

Gespräch mit Dirk Heinke, 24. April 2020

Dirk Heinke, Fachgruppe Migration
Dirk Heinke, Fachgruppe Migration

Hallo Dirk, Du bist schon seit Jahren in der Landesarmutskonferenz Berlin in der Fachgruppe Migration aktiv. Und arbeitest in der AWO Fachstelle für Integration und Migration in Berlin Schöneberg. Dort bietet Ihr Beratung für erwachsene Zuwanderer an. Wer kommt zu Euch und wie könnt Ihr den Menschen helfen? 

 

Zu uns kommen Menschen aus allen Ländern meist zu Beginn ihres Aufenthaltes in Deutschland. Dabei sind die Gründe ihres Hierseins ganz unterschiedlich. Und so ist es auch mit ihrem rechtlichen Aufenthaltsstatus. Unsere Aufgabe besteht darin, ihnen zunächst zu erklären, wie unsere Verwaltung funktioniert und wo sie was beantragen oder klären müssen. Denen, die sprachlich noch nicht so weit sind, helfen wir mit Schreiben und Formularen, da das Verwaltungsdeutsch immer wieder eine große Hürde darstellt. Wenn die Behörden nicht so beraten, wie sie es eigentlich sollten, dann sind wir ebenfalls zur Stelle. Nicht selten planen wir gemeinsam die konkreten Schritte in ein selbständiges Leben. Darum geht es ja eigentlich. 

 

Das stelle ich mir in Deutschland besonders schwer vor.

Nicht wenige Menschen – insbesondere die aus der EU – müssen sich ihr Recht auf Überleben in Deutschland erst einmal über eine Tätigkeit als Selbstständige oder Beschäftigte zumindest in einem Minijob erwerben. Viele bleiben anfangs in einer Schleife aus fehlendem Wohnraum, fehlendem Job, fehlender Krankenversicherung und fehlender Existenzsicherung gefangen.

 

Seit Beginn der Corona-Krise wurde Eure Beratungsstelle für Präsenzberatung geschlossen. Was bedeutet das für die Menschen, die Unterstützung gerade jetzt benötigen?

Es wird natürlich umständlicher und langsamer, wichtige Beratungsinformationen schnell und direkt an die Ratsuchenden zu bringen. Wir müssen Behördenschreiben irgendwie zu Gesicht bekommen, dann per Telefon, Mail oder Post dazu Hinweise geben.

 

Ich weiß durch die Arbeit Eurer Fachgruppe, dass Benachteiligungen im Hilfesystem vor Corona nicht unüblich waren.

Ja, grundsätzlich wissen wir, dass die Zugangsbarrieren von Unionsbürger*innen zu Jobcentern und Arbeitsagenturen schon in der Vergangenheit recht hoch waren. Bei Sprachproblemen missachteten beide Institutionen regelmäßig die EU-Gesetzgebung (EU-VO 883/2004) sowie auch die Weisungslage der Bundesagentur für Arbeit (BA). Eine bestehende Dolmetscher-Hotline wurde nach unserer Erfahrung fast nie genutzt, auch wenn dies in der Außendarstellung behauptet wurde. Sprachmittler*innen waren kaum auf in der EU gesprochene Amtssprachen ausgerichtet.

 

Was heißt das im jetzigen Alltag?

Derzeit können diese Institutionen nur auf telefonischem Weg erreicht werden. Da diese Kommunikationsart schon zuvor von der Weisung der Bundesagentur für Arbeit nicht erfasst wurde, sind Menschen ohne Deutschkenntnisse – jedoch mit Rechtsansprüchen auf Leistungen –  komplett von der Kommunikation mit den Behörden abgeschnitten.

 

Die Rechtslage scheint nicht unwichtig zu sein. Kannst Du das kurz erklären?

In der eben genannten Verordnung wird unter anderem der diskriminierungsfreie Zugang zu Dienstleistungen der Arbeitsverwaltung in anderen Ländern der EU festgelegt. Nicht mit Menschen zu sprechen, beziehungsweise nur in einer Sprache zu kommunizieren, die diese nicht verstehen, gilt als Diskriminierung. Daher hat die Bundesagentur für Arbeit die Einschaltung von Dolmetscher-Diensten vorgeschrieben.

 

Insgesamt soll die Zusammenarbeit und die Koordinierung der jeweils national geprägten Sozialversicherungssysteme für die Menschen innerhalb der EU erleichtert werden. Die unterschiedlichen Funktionsweisen sollen Menschen nicht davon abhalten, innerhalb der EU mobil zu sein. Doch leider gibt es in der Praxis unzählige Hürden für den Anspruch auf soziale Sicherung außerhalb des Herkunftslandes. 

 

Und diese Situation hat sich mit der Corona-Krise verschärft?

Ja, davon gehen wir aus. In der aktuellen Situation, in der alle Institutionen unter Hochdruck versuchen, eine optimale Weiterarbeit aufrechtzuerhalten, haben wir Grund zu dieser Vermutung. Die Diskriminierung von Unionsbürger*innen –  bzw. ganz allgemein von „Kund*innen“ mit eingeschränkten Sprachkenntnissen, dies können auch Deutsche aus dem Ausland sein – wird in der Verweigerung einer angemessenen Kommunikation auf schriftlichem wie (fern-)mündlichem Weg zementiert. 

Die Arbeitsverwaltungen bekommen gleichzeitig mehr zu tun, denn viele Branchen, in denen Unionsbürger*innen auch ohne gute Sprachkenntnisse eine Arbeit finden konnten, sind von der aktuellen Pandemie besonders betroffen. Es kommt zu Kündigungen, Insolvenzen, Kurzarbeit. Viele Jobs werden gar nicht mehr angeboten. 

 

Was sollte getan werden?

Neben der notwendigen mehrsprachigen Kommunikation mit Ratsuchenden und Kund*innen wäre es jetzt an der Zeit, die Praxis der Jobcenter zu überprüfen, die zum Teil überzogenen und nicht bewältigbaren Mitwirkungsaufforderungen zu begrenzen. Sie führen zu oftmals monatelanger Verzögerung der Antragsbearbeitung. Mit harten Folgen für die Menschen und ihre Familien.

 

Wo werdet Ihr als Fachgruppe genauer hinschauen? 

Wir haben schon vor Corona darauf gedrängt, den heimlichen Krieg der Jobcenter gegen den ALG-II-Bezug von Unionsbürger*innen zu beenden. Und wir werden weiter beobachten, ob die aktuellen Möglichkeiten der vereinfachten Antragstellung bei Jobcentern tatsächlich genutzt werden – oder ob die Jobcenter weiter nach dem Motto agieren: Lieber etwas länger kein Geld zahlen, als gegebenenfalls zu viel Geld ausgezahlt zu haben. Dies führt, wie gesagt, zu vielfältigen Krisen bei Bedürftigen.

 

Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) hat vor Kurzem einen Aufruf gestartet, die Leistungsausschlüsse von Unionsbürger*innen zu beenden. Als Fachgruppe Migration der Landesarmutskonferenz Berlin schließen wir uns dieser Forderung an.

 

Zudem hat das Sozialgericht Düsseldorf einem Obdachlosen, der aktuell nicht ausreisen kann, Jobcenter-Leistungen zugesprochen. Wir hoffen, dass dieses Urteil bundesweit zur Leitlinie der Leistungsgewährung wird. 

 

Dirk, herzlichen Dank!

Kirstin